Es war einmal in einem Land, in dem die Türme aus Glas und Stahl in den Himmel wuchsen und die Flüsse aus Daten und Zahlen bestanden, ein Mann namens Jakob Goldmann.
Er war kein König und kein Prinz, doch in seinem Reich, dem grossen Kontor der Goldenen Zahlen, galt sein Wort viel.
Er war der „Zweite Bewahrer des Grossen Schlüssels“, ein Titel, der ihm Zugang zu den wichtigsten Schatzkammern gewährte und dessen Glanz heller strahlte als die Morgensonne.
Herr Goldmann wohnte in einem Palast aus kühlem Marmor, in dem jedes Möbelstück einen Preis, aber keine Geschichte hatte.
Sein Spiegelbild zeigte ihm einen Mann in massgeschneiderten Gewändern, dessen Wert er jeden Morgen aufs Neue an der Höhe seines Einkommens und der Wichtigkeit seines Titels mass.
Er zählte seine Erfolge wie ein Drache seine Goldmünzen, und doch war sein Herz eine kalte, leere Höhle.
Die Wärme eines Lächelns, die Melodie eines Liedes oder die Stille eines Sonnenuntergangs waren für ihn nur unproduktive Zeitverschwendung. Sein Wert war sein Rang. Nichts sonst.
Doch eines Tages zog ein Schatten über sein goldenes Reich. Der Oberste Schatzmeister, ein Mann mit Augen so kalt wie eine Winternacht, rief ihn zu sich.
„Herr Goldmann“, sprach er, ohne ihn anzusehen, „die Zeiten ändern sich. Wir müssen die Kammern neu ordnen. Ab morgen seid Ihr nicht mehr der Zweite Bewahrer des Grossen Schlüssels, sondern der Dritte Hüter der Silbernen Feder.“
Die Worte trafen Jakob Goldmann wie ein Blitz. Von Gold zu Silber! Vom Schlüssel zur Feder! Von der zweiten auf die dritte Stufe!
Die Welt um ihn herum verlor ihre Farbe. Der Glanz seines Titels erlosch, und in der Dunkelheit sah er sich selbst zum ersten Mal: ein Nichts.
Ein armseliger Wicht, dessen gesamtes goldenes Schloss auf einem einzigen, wackeligen Fundament gebaut war – der Anerkennung anderer.
Noch am selben Abend sass er in seinem kalten Palast und schrieb einen Brief. Doch er nutzte keine Tinte, sondern die bittere Galle seiner Kränkung.
Auf feinstem Papier listete er jede Ungerechtigkeit, jeden missachteten Erfolg, jede Person, die ihm diesen Abstieg angetan hatte.
Es war eine lange Schriftrolle des Schmerzes. Als er fertig war, stand sein Entschluss fest. Er würde zur Brücke der vergessenen Seelen gehen und seinen wertlosen Körper in den kalten, gleichgültigen Fluss stürzen lassen.
Mit dem Brief in der Tasche schritt er durch die nächtliche Stadt. Die Lichter der Türme funkelten wie falsche Diamanten. An der Brücke angekommen, spürte er den feuchten Wind auf seinem Gesicht.
Er blickte in die schwarze Tiefe, die ihm ein Ende seiner Schmach versprach. Er holte die Schriftrolle hervor, um sie ein letztes Mal zu lesen, als eine leise, knarzende Stimme ihn aus seinen Gedanken riss.
„Ein schweres Herz für eine so leichte Nacht, mein Herr.“
Jakob Goldmann drehte sich um. Vor ihm stand ein alter Mann, gebeugt und in einfache, geflickte Kleider gehüllt.
In seiner Hand hielt er eine lange Stange, mit der er die alten Gaslaternen am Brückenrand entzündete. Eine nach der anderen erblühte in einem warmen, sanften Licht.
„Was wollt Ihr?“, schnauzte Goldmann. „Lasst mich in Frieden!“
Der alte Laternenanzünder lächelte, und seine Augen funkelten weise im Licht seiner Flamme. „Frieden?“, sagte er sanft. „Den findet man selten, wenn man so fest an etwas hält. Was habt Ihr da in der Hand? Sieht schwer aus.“
„Das ist mein Leben!“, rief Goldmann verzweifelt. „Alles, was man mir angetan hat! Mein ganzer verlorener Wert!“
Der alte Mann kam näher und blickte nicht auf Goldmanns teuren Mantel, sondern direkt in seine Augen. „Verlorener Wert?“, fragte er verwundert.
„Sagt, mein Herr, wenn ein König seine Krone verliert, ist er dann kein Mensch mehr? Wenn ein Vogel eine Feder verliert, kann er nicht mehr singen? Ihr sprecht von Eurem Wert, als wäre er eine Münze, die man Euch aus der Tasche gestohlen hat.“
Er hielt inne, zündete die letzte Laterne an und die Brücke war nun in ein tröstliches Licht getaucht.
„Ich bin nur ein einfacher Laternenanzünder“, fuhr er fort.
„Mein Lohn ist gering. Mein Titel ist keiner. Und doch, wenn ich dieses Licht entzünde und sehe, wie es einem verlorenen Wanderer den Weg weist oder einem Liebespaar ins Gesicht scheint, dann fühle ich mich reich.“
„Sagt mir, wer bestimmt den Wert dieses Lichts? Der Bürgermeister, der mir den Lohn zahlt? Oder das Auge, das seine Wärme empfängt?“
Jakob Goldmann schwieg. Die Worte des Alten waren wie kleine Schlüssel, die rostige Schlösser in seinem Inneren zu öffnen begannen.
Der Laternenanzünder griff in seine Tasche und holte ein kleines, unförmiges Stück Brot hervor.
„Hier“, sagte er und reichte es Goldmann. „Es ist nicht viel, aber es ist warm und mit ehrlichen Händen gebacken. Es hat keinen Titel und keinen Rang. Sein einziger Wert liegt darin, den Hunger zu stillen.“
Jakob Goldmann nahm das Brot. Es fühlte sich in seiner Hand schwerer und wirklicher an als all die goldenen Zahlen, die er je besessen hatte.
Als er aufblickte, war der alte Mann verschwunden, als wäre er nur ein Teil des Lichts gewesen, das er entzündet hatte.
Goldmann stand allein auf der Brücke. In der einen Hand hielt er die kalte Schriftrolle seiner Kränkungen. In der anderen das warme Brot.
Er blickte auf den Brief, ein Monument seines Stolzes und seines Schmerzes. Dann blickte er auf das Brot, ein Symbol für einfache, bedingungslose Güte.
Langsam liess er die Schriftrolle los. Sie flatterte wie ein dunkler Vogel in die Tiefe und wurde vom Fluss verschlungen. Dann biss er in das Brot.
Und zum ersten Mal seit Jahren schmeckte er etwas. Nicht den Preis, nicht den Status, sondern einfach nur Brot. Und es war gut.
Am nächsten Tag ging Jakob Goldmann in das Kontor der Goldenen Zahlen. Er setzte sich an seinen neuen, kleineren Schreibtisch und nahm die Silberne Feder in die Hand. Sie lag leicht und elegant in seiner Hand.
Er begann zu arbeiten, doch er zählte nicht mehr nur die Zahlen. Er sah die Menschen hinter den Zahlen. Er hörte das Lachen in den Gängen.
Er spürte die Sonne, die durch das Fenster schien.
Er war nicht mehr Herr Goldmann, der Zweite Bewahrer. Er war einfach Jakob.
Und er erkannte, dass der wahre Wert eines Menschen nicht wie eine Krone verliehen wird, die man ihm nehmen kann. Er ist wie ein Licht im Herzen, das man nur selbst entzünden muss.
Und so begann er, glücklich und zufrieden zu leben, nicht weil er viel besass, sondern weil er zum ersten Mal in seinem Leben wusste, was wirklich zählte. Und das, so sagt man, ist der grösste Schatz von allen.
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Eine schöne Parabel.
Interessanter als die Geschichte an sich, finde ich den Lösungsweg, der hier aufgezeigt wird: Er nimmt das Brot, „ein Symbol für einfache und bedingungslose Güte“ und beisst hinein. Danach scheint die Sonne und alle Bitterkeit ist gewichen.Von wessen Güte sprechen Sie, Herr Luchmann?
Das Problem mit solchen Geschichten ist, dass sie den Anschein von Weisheit haben, aber schlussendlich der Realität nicht standhalten können.Bitterkeit, die aus dem Gefühl entsteht, ungerecht behandelt worden zu sein, lässt sich nicht auf einen Schlag heilen. In der Regel ist es ein Prozess, der damit beginnt, das unbewusste Denken zu unterbrechen und durch andere (positive) Gedanken zu ersetzen.
Dabei geht es nicht um Floskeln wie: „Ich hab ein Licht im Herzen“. Derartige Phrasen nützen nichts in einer solchen Situation.Aber bleiben Sie dran, Herr Luchmann, ich bin gespannt, welche Lösungen Sie uns präsentieren…
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eine gute Hypnotherapeutin kann diese Parabel in eine Tranceinduktion einbauen, in einem Zustand, in dem das (über-)kritische Denken ein wenig reduziert ist, und dann kann jedeR seine eigene, persönliche Wahrheit darin entdecken, und gestärkt in den Alltag zurückkehren – Trance-Formation
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Oh je, was für eine überaus simple Moral: lieber arm und glücklich als reich und unzufrieden. Stufe erste Primarklasse. Oder Parteiprogramm der Grünen und Linke, das aber nur für andere gilt.
Ich sage aber: lieber reich und gesund als arm und krank.
Müssen wir nun auch auf IP dieses säuerliche moralinverseuchte Gutmenschentum erdulden? -
Menschen mit einem geringen Selbstwert suchen im Aussen etwas, was nur im Innen gefunden werden kann. Die Anerkennung und das Lob von anderen, sowie die Status-Sucht sind in der Finanzwelt weit verbreitet, aber auch in jedem anderem Metier. Glückselig ist, er sich selber alles geben kann und nicht dem Köder nachläuft.
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Schon spannend, wie Leute, die angeblich nichts im Außen brauchen, ständig im Außen posten, dass sie nichts im Außen brauchen. Meta-Level: Erleuchtet.
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Glückselig ist, wer sich selbst alles geben kann und trotzdem nicht aufhört, anderen zu erzählen, wie sehr er sich selbst alles geben kann. Klingt nach spirituellem Narzissmus mit Bio-Siegel.
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Und des Goldmanns Ehefrau, die hiess wohl Sachs.
Und dann fängt der Schlamassel wieder von vorne an.
So was aber auch.
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Eine wunderbar träfe Erzählung für ‚Das Wort am Sonntag‘. Vielleicht zeigt sich die SRG flexibel genug, diese durch die bereits zuvor aufgezeichnete Sendung auszuwechseln (SRF1; 20.05h).
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Es gefällt auch, dass Herr Goldmann nach wohl vielen Lebens- und Arbeitsjahren nicht gänzlich abgesägt wurde. So wurde ihm doch eine neue Aufgabe zugestanden; weder wurde er frühzeitig unter jedem gesellschaftlichen Radar entsorgt und systemisch ausgesteuert, noch wurde ihm offenbar sein wackeliges Schloss enteignet. Und obendrein wurde ihm ohne Formularkrieg und unter Wahrung seiner persönlichen Würde noch ein ofenfrisches Stück Brot geschenkt. Nun, in der Schweiz dürfte sich das Ganze nicht abgespielt haben, denn dort wachsen keine Türme aus Stahl und Glas in den Himmel, sondern es wird stattdessen verdichtet gebaut, weil die Leute gemäss den Guten und den Rechnern im Lande sowieso von allem viel zuviel verbrauchen.
Ausser die Wurst oder das Käsescheibchen im Raclette-Dörfli, die gab’s beide zu Zeiten sogar gratis.-
Ach, wie nobel Herr Goldmann wurde also nicht gleich mit dem Pensionsbescheid und einem feuchten Händedruck in die Bedeutungslosigkeit katapultiert. Stattdessen hat man ihm eine „neue Aufgabe“ zugestanden vermutlich irgendwas zwischen Alibiposten und dekorativer Restverwertung. Hauptsache, er stört nicht beim Neudenken. Und dass ihm dabei nicht auch noch das letzte Möbelstück gepfändet wurde, sondern man ihm sogar ein „ofenfrisches Stück Brot“ reichte das grenzt ja fast an Fürsorge. Oder war’s eher ein symbolischer Happen, damit er nicht auf die Idee kommt, sich zu beschweren.
Und die Schweiz, natürlich, das Land, in dem man lieber in die Tiefe baut als in die Höhe aus Angst, jemand könnte versehentlich über den Tellerrand schauen. Dort wird nicht nur verdichtet, sondern auch moralisch komprimiert. Wer mehr als zwei Scheiben Käse im Raclette will, gilt schon als dekadent. -
Ach, wie nobel Herr Goldmann wurde also nicht gleich mit dem Pensionsbescheid und einem feuchten Händedruck in die Bedeutungslosigkeit katapultiert. Stattdessen hat man ihm eine „neue Aufgabe“ zugestanden vermutlich irgendwas zwischen Alibiposten und dekorativer Restverwertung. Hauptsache, er stört nicht beim Neudenken. Und dass ihm dabei nicht auch noch das letzte Möbelstück gepfändet wurde, sondern man ihm sogar ein „ofenfrisches Stück Brot“ reichte das grenzt ja fast an Fürsorge. Oder war’s eher ein symbolischer Happen, damit er nicht auf die Idee kommt, sich zu beschweren.
Und die Schweiz, natürlich, das Land, in dem man lieber in die Tiefe baut als in die Höhe aus Angst, jemand könnte versehentlich über den Tellerrand schauen. Dort wird nicht nur verdichtet, sondern auch moralisch komprimiert. Wer mehr als zwei Scheiben Käse im Raclette will, gilt schon als dekadent
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Chapeau!
Einfach genial.
Danke!
Und – bitte mehr davon. -
vielleicht sollten die älteren mal nachdenken 😍❤️
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💊 💊 heute wieder vergessen!
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DANKE
Herz
💊 💊 heute wieder vergessen!
Chapeau! Einfach genial. Danke! Und - bitte mehr davon.
DANKE Herz