Nachdem vor einigen Wochen Ungarn offiziell die Schliessung der Währungsfonds-Vertretung in Budapest angekündigt hatte und auch die Griechen immer wieder auf Plakaten die Troika, bestehend aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und IWF, für die wirtschaftlichen Problem des Landes verantwortlich machen, muss wohl auch Brüssel die populistischen Zeichen der Zeit erkannt haben. EU-Kommissarin Viviane Reding will jedenfalls den Dreierbund abschaffen. Das überrascht wenig, zumal der bundesdeutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble bereits vor einigen Wochen erklärt hatte, dass sich der IWF langfristig aus Europa zurückziehen solle.
Die Charmeoffensive Schäubles in Athen vor ein paar Wochen zeigt, dass der sich anbahnende Konflikt zwischen dem IWF und der EU nicht ganz frei von symbolischen Handlungen ist. Dem griechischen Mittelstand durch deutsche Förderfonds von bis zu 100 Millionen Euro zu helfen, ist wahrlich dieser Handlungsmaxime zuzuordnen, nachdem sich 2011 die Kreditzusagen des IWF an alle Krisenstaaten in der EU auf 92,4 Milliarden Euro addierten. Wir rufen kurz in Erinnerung: Zur Bewältigung der Schuldenkrise im Euroraum hatten gerade die Europäer mit Deutschland an der Spitze erst vor wenigen Jahren eine aktivere Rolle des IWF bei der Kreditvergabe gefordert, um dem drohenden weltwirtschaftlichen Chaos im Falle eines Eurozusammenbruchs entgegenzuwirken.
Die Milliardenzahlungen an krisenerschütterte Länder wie Griechenland und Portugal waren doch sehr willkommen, konnten diese Länder damit, wenn auch nicht den eigenen Sozialfrieden fördern, so doch zumindest Pleiten der grössten deutschen und französischen Banken vermeiden. Nachdem diese Banken nun die meisten Staatspapiere wieder abgestossen haben, somit also eher eine Umschichtung der Kredite im reichen Norden als eine Umschuldung im armen Süden vorgenommen wurde, kann man sich wieder auf europäische Werte besinnen.
Gerade die jüngst geäusserte Selbstkritik des IWF, in Griechenland zu spät einem Schuldenschnitt zugestimmt und generell bei der Rettung des Landes auch Fehler begangen zu haben, konnten Brüssel und Berlin so nicht hinnehmen. Aber woran könnte es denn liegen, dass sich die Geldgeber untereinander nicht mehr so richtig vertragen? Könnte es sein, dass der IWF das doppelzüngige Spiel der Europäer durchschaut hat, Gelder in Not zwar einzufordern, diese aber nicht durch eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik zum Ankurbeln der Weltwirtschaft wieder auszugeben?
Die Sorge um die Weltkonjunktur ist deutlich im Papier des Lenkungsausschusses des IWF zum Ausdruck gekommen. „Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen ist noch immer zu schwach“, heisst es darin. „Wir müssen entschlossen handeln, um die Widerstandskraft der Weltökonomie wiederherzustellen“, betonte Singapurs Minister Tharman Shanmugaratnam, der Vorsitzende des Komitees, und hob hervor, dass dafür eine Mischung verschiedener Massnahmen notwendig sei. „Es gibt nicht eine einzige Waffe.“ Womit er sich kritisch auf die einseitige Sparpolitik der Europäer bezieht.
Während auch die Amerikaner eine stärkere Nachfrage in Europa als wichtig für das globale Wachstum erachten, hält Wolfgang Schäuble Europa nicht für einen Wachstumstreiber für die Weltwirtschaft. „Es wäre völlig unrealistisch, hier grosse Wachstumsraten zu erwarten“, argumentierte er in Washington. Wer mehr erwarte, laufe Gefahr, nicht die eigenen Probleme zu lösen, hob er hervor. Hierbei bekam er auch Unterstützung von Bundesbank-Präsident Jens Weidmann. Dieser betonte, Europa müsse immer mit niedrigeren Zuwachsraten rechnen als andere Regionen.
Die USA sind mehr als die Europäer auf ein Anspringen der Weltwirtschaft angewiesen, rutschen die Amerikaner ansonsten immer tiefer in den roten Bereich und schaffen es kaum, der Negativspirale des chronischen Handels- und Zahlungsbilanzdefizits zu entkommen. Daher wäre eine wie auch in Japan heute übliche, lockere Geld- und expansive Wirtschaftspolitik auch in Europa ein entscheidender Impuls für die Weltkonjunktur.
Stattdessen läuft über die südliche Flanke Europas eine Welle der Desindustrialisierung, die Volkswirtschaften einzelner EU-Staaten unter dem Sparzwang langsam austrocknet. Gerade im Ausbleiben einer nationalen, nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik werden im unfreien Europa der Marktlenkung falsche Anreize gesetzt, indem der reiche Norden bequem den Produktionsschwund im Süden auffüllt und ein kartellierter Markt lakonisch Wirtschaftsfreiheit propagiert. Einzig der Abschaffung der innereuropäischen Zollbarrieren und Implementierung fester Wechselkurse im Euroraum ist der Aufschwung zu verdanken. Das alleine begründet noch keine wirtschaftspolitische Schule, sondern ist lediglich Ausdruck von blanker Macht.
Sicherlich mag sich das politische Europa spätestens seit Edward Snowden als Opfer der US-amerikanischen Beschattung fühlen, doch hilft es den vermeintlichen Opfern, sich nicht nur politisch, sondern vermehrt auch finanziell von den USA abzunabeln. Fakt ist, dass die wirtschaftspolitischen Ansätze des IWF zum einen und der auf Austerität hin ausgerichteten EU-Wirtschaftspolitik zum anderen längst zu einem Dogmenkonflikt entartet sind. Obschon auch der IWF den Nehmerländern Sparauflagen erteilt hat, gehen diese weder so weit wie die Auflagen der EU, noch zielen sie darauf ab, einen von den USA unabhängigen europäischen Block aufzubauen.
Hierbei darf man nicht vergessen, dass die reichen Industrieländer den IWF zwar mit Geld für die erforderlichen Kredite ausstatten, die politischen Entscheidungen aber nach einer unterschiedlichen Stimmverteilung je nach Kapitalanteil gefällt werden. Aufgrund des hohen Kapitalanteils der USA am IWF fällt auch ein hohes Stimmgewicht von rund 17 Prozent Washington zu, verglichen mit 6 Prozent Kapitalanteil Deutschlands oder Grossbritanniens mit 4 Prozent.
Nun fragen wir uns jedoch, woher die Staaten im Süden und Osten Europas denn das Geld für die erforderlichen Investitionen nehmen sollten, wenn sie künftig auf den IWF verzichten müssen, obschon ihr wirtschaftliches Substrat ihnen zusehends abhandenkommt und ihnen ein Anrecht auf einer eigenen expansiven Wirtschaftspolitik von Deutschland abgesprochen wird? Was gibt Deutschland oder der demokratisch nicht legitimierten EU das Recht, nach Belieben und ohne Gegenleistung über den nationalen Sozialfrieden einzelner Staaten auf diese Weise zu bestimmen?
Die Abnabelung von der verhassten Weltfinanz hat Tradition. „Der letzte Weltkrieg hat die europäischen Völker bereits gelehrt, dass es nicht ratsam ist, ihr Schicksal rückhaltlos einer überspitzten internationalen Arbeitsteilung anzuvertrauen. (…) Die vorwiegend agrarisch orientierten Länder beeilten sich, die Selbstversorgung mit Industrieerzeugnissen durch forcierte Industrialisierung zu erreichen. In beiden Fällen blieb das Ergebnis unbefriedigend. Besonders die Industrien der kleinen Staaten Europas fristeten in der Nachkriegszeit hinter hohen Schutzzollmauern ein ebenso unerspriessliches wie für die Gesamtheit kostspieliges Dasein. Sie schluckten Subventionen, verstärkten unnötig den internationalen Konkurrenzkampf, verteuerten die Lebenshaltung ihrer Völker und gerieten schliesslich in den Strudel der Weltwirtschaftskrise, und das alles, weil die natürlichen Grundlagen fast nirgends ausreichten.“ („Das wirtschaftliche Gesicht des neuen Europa“ von Walther Funk, Reichswirtschaftsminister und Präsident der Deutschen Reichsbank, 1943).
Wo Funk damals und Schäuble heute sich täuschen ist, dass Menschen der Politik der guten Absichten grundsätzlich misstrauen und in einem Europa der Partner auf gleicher Augenhöhe das Selbstversorgungsrecht der Griechen oder Spanier ebenso viel zählt wie jenes der Deutschen. Europa braucht eine globale Öffnung, um durch Welthandel Wohlstand zu sichern, und nicht sozialfeindliche Wirtschaftslenkung, die man verharmlosend „Sparen“ nennt.
Vielmehr sollten europäische Staaten ein Anrecht darauf haben, ihre Wirtschaftspolitik selber zu bestimmen, ohne dabei einer selbsternannten und einseitigen Definition von „natürlicher“ Entwicklung bedingungslos zu entsprechen. Nochmals dazu Walther Funk aus der vorher zitierten Rede: „Jene Teile Europas, die bisher noch rückständig sind, müssen zu intensiver Wirtschaft veranlasst werden. Die Industrialisierung dieser Gebiete, die sich unter dem Protektionismus angebahnt hat, wird sich zweifellos fortsetzen, aber mit dem Unterschied, dass jeder Staat sich die Industrie aufbaut, die sowohl seinen natürlichen Produktionsbedingungen als auch den Bedürfnissen des europäischen Marktes am besten entspricht. (…) Es wird auch das grosse Problem der Rationalisierung der europäischen Wirtschaft eines Tages von uns aufgegriffen und angegriffen werden müssen; und hier, glaube ich, werden sich, wenn die Dinge erst einmal konsolidiert sind, Produktionssteigerungen erzielen lassen, von denen wir uns heute noch gar keine Vorstellungen machen“. Also sollte Europa darauf vertrauen und warten?
Den IWF in Europa zu behalten, ist nämlich nicht nur ein Garant für Finanzstabilität und Glaubwürdigkeit, sondern auch ein Anker für die Demokratie von morgen.
Leider versteht Schäuble nichts von Wirtschaft und will berechtigte Kritik nicht hören. Der IWF hat offenbar die besseren Analysten, deren Wahrheiten aber im Euro-Rettungswahn nicht gerne zur Kenntnis genommen werden.
Zitat: „Der Währungsfonds kritisiert das Vorgehen bei der Griechenland-Rettung überaus deutlich. Und weil diese Politik zwischen IWF, Europäischer Union und der Europäischen Zentralbank in der so genannten Troika eng abgestimmt war, ist der Bericht nicht bloss Selbstkritik des Fonds, sondern auch eine gewaltige Ohrfeige für die europäischen Spitzenpolitiker. Der IWF-Bericht kommt unter anderem zum Schluss, dass von Beginn weg klar war, dass Griechenland seine Schulden nicht mehr vollumfänglich zurückzahlen konnte. Damit wäre das Erfordernis für IWF-Hilfspakete nicht erfüllt gewesen, gemäss dem die Wahrscheinlichkeit hoch sein muss, dass die öffentliche Schuld mittelfristig nachhaltig ist.“ Quelle: http://blog.tagesanzeiger.ch/nevermindthemarkets/index.php/13203/die-frechen-iwf-okonomen/