Gestern kurz vor US-Börsenöffnung: Die Progress Software Corporation verkündet ihre Jahreszahlen. Genauer gesagt einen Quartalsverlust von 73.8 Millionen Dollar bei einem Umsatz von 117 Millionen.
Der Jahresumsatz beträgt 405 Millionen. Die Aktie taucht um 15%. Die Börse erlässt, wie in solchen Fällen üblich, eine „Short Sale Restriction“. Bis zum 19. Januar, um extremere Ausschläge zu vermeiden.
So what? Im Allgemeinen nichts Weltbewegendes. Kommt jedes Jahr hundertfach vor, dass irgendein US-KMU an der Börse abschmiert.
Für Schweizer ist das jedoch etwas Besonderes.
Dieser Firma, die im Wesentlichen vom Support einer Uralt-Datenbank-Technologie lebt, bis der letzte Kunde „gestorben ist“, vertrauen unsere IV-Stellen die Verarbeitung ihrer Daten an.
Als Abonnement von it-beschaffung.ch staunte ich vor einigen Tagen nicht schlecht zu erfahren, dass die IV-Stellen der Kantone Aargau, Appenzell-Ausserrhoden, Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Bern, Luzern und Solothurn quasi per Dekret statt öffentlicher Ausschreibung die Direktvergabe eines 6 Millionen Auftrags an den Schweizer Ableger, die Progress Software AG, publizierten.
Begründung sind „technische Besonderheiten, hohe Komplexität und erheblicher Aufwand bei Wechsel“. Zudem liege das geistige Eigentum an den Schutzrechten beim Anbieter.
Progress, diese riesige Verlustmaschine, sagte sich wohl: Holen wir das Geld doch dort, wo es am lockersten sitzt. Und als Visitenkarte eignen sich Bitcoin-Projekte eh besser als IV-Systeme.
Oder irre ich mich?
Der Entscheid ist in simap öffentlich publiziert.
(Extrakt für Inside-Paradeplatz-Leser; Originalartikel mit Kommentar „Longterm-Investor“ und weitere Investmentsdetails, siehe Longterm-Investor.)
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Ich kommentiere Ihre Meldung mal aus technischer Sicht. Als Progress-Consultant mit 25 jähriger Erfahrung muss ich ihrer Einschätzung, dass es sich bei der Entwicklung mit Progress/Openedge um altes Zeug handelt widersprechen. Zuerst einmal ist die Progress-Architektur (vor allem die DB) sehr robust. DB-Crashs kommen so gut wie gar nicht vor. Die Umgebung selbst entspricht, nachdem eine „Technologie-Lücke“ mit der 2000er aufgearbeitet wurde, aktuellen Architektur-Standards, setzt in Teilen neue Technologie-Trends (bspw. bei der Lauffähigkeit von Bedienoberflächen auf allen gängigen „smarten“ Endgeräten) und ist auch interoperabel mit anderen Technologien, etwa aus dem Java oder .NET-Bereich. Was für die Entwicklung mit Progress/OpenEdge spricht ist die Produktivität die sich aus der sehr intelligenten Art & Weise ergibt mit der Daten gelesen, transformiert, transportiert, geändert werden können.
Bei dem Hinweis auf „günstige“ OpenSource-Umgebungen muss ich schmunzeln. Man soll nicht glauben, dass Projektkosten im wesentlichen von den Anschaffungskosten der verwendeten Technologie abhängen. Bei OpenSource-Software zeigen sich die Kosten erst im Lebenszyklus einer Software. Bei OSS ist die Regel, dass ohne Rücksicht auf frühere Versionen weiterentwickelt wird. Daraus entstehen dauerhaft Kosten die keinen oder kaum Produktivitätsgewinn bringen. Dass sie Progress als unbedeutendes Unternehmen einstufen kann ich nachvollziehen, wird doch seit Jahren viel zu wenig investiert um den Bekanntheitsgrad zu vergrößern. Allerdings scheint sich dies gerade im Technologie-Umfeld aus den oben genannten Gründen zu ändern.
Was die Art & Weise der Ausschreibung dieser Projekte angeht, gebe ich Ihnen tendenziell Recht. Allerdings müsste man dazu die IST-Situation etwas genauer betrachten. Die Umstellung umfangreicher Software-Anwendungen, die es wohl in diese Fall nicht von der Stange gibt, auf einen andere Technolgie-Stack sind kein Pappenstiel.
Es werden deutlich über 7 Millionen ausgegeben, dazu wahrscheinlich noch einmal weitere interne Kosten (die 7,5M sind nur für „Unterstützung“). Gab es überhaupt je Überlegungen, ob nicht der Umstieg auf eine modernere, offenere (Open Source?) Plattform mittel- bzw. langfristig günstiger sein könnte? Vermeidung von Lock-in, höhere Benutzerfreundlichkeit und Zufriedenheit bei Nutzern und Versicherten, …