In einer Gesellschaft, die sich selbst über Produktivität definiert, ist Faulheit zur Todsünde geworden.
Ein Vorwurf, der sitzt. Wer nichts leistet, gilt schnell als Last – und wird aus dem Kreis der Tüchtigen ausgeschlossen.
Und doch träumen viele insgeheim vom Gegenteil. In Talkshows sprechen Prominente auffällig oft über ihre Sehnsucht nach „mehr Musse“.
Der Wunsch nach Faulheit gehört längst zum imagefördernden Repertoire: Weniger Termine, mehr Zeit für sich.
Am besten mit Detox-Retreat auf Bali oder Schweigekloster in Portugal.
Hinter den Kulissen läuft derweil das Hochleistungs-Programm weiter. Wer in der Öffentlichkeit präsent sein will, arbeitet ununterbrochen an seinem Image.
Coaches, Stylisten, Ernährungsberater, Social-Media-Teams. Faulheit? Ja – aber bitte nur als inszenierte Pose.
Ganz anders die Realität jener, die wirklich nicht arbeiten; nicht, weil sie ein Sabbatical machen oder ein Buch schreiben, sondern weil sie schlicht keine Stelle haben.
Wer arbeitslos ist, fällt rasch durch alle Raster. Der Begriff „faul“ steht unausgesprochen im Raum, begleitet von Begriffen wie „sozialer Missbrauch“, „Parasiten“ oder „Kultur der Anspruchshaltung“.
Diese öffentliche Verachtung trifft nicht nur die Erwerbslosen. Auch sogenannte Low Performer am Arbeitsplatz erleben zunehmend sozialen Druck.
Wer in Meetings nicht performt oder keine Überstunden macht, steht bald unter Verdacht: nicht motiviert genug, nicht belastbar genug, nicht hungrig genug.
Dabei war das „Recht auf Arbeit“ ursprünglich eine soziale Forderung; heute gleicht es einem Pflichtprogramm. Arbeit wurde vom Mittel zum Zweck zum Selbstzweck umgedeutet.
Der Mensch hat nicht mehr einfach einen Beruf – er wird über ihn definiert.
Diese Ideologie wirkt tief. Wir fragen „Was machst du?“ und meinen „Was bist du wert?“
Selbst Rentner, die ihr Leben lang gearbeitet haben, fühlen sich plötzlich verpflichtet, noch „etwas zu tun“. Sonst gelten sie als nutzlos.
Schon 1883 hat Paul Lafargue, seines Zeichens Schwiegersohn von Karl Marx, diesem Wahnsinn den Spiegel vorgehalten. In seinem Text „Das Recht auf Faulheit“ schrieb er:
„Eine seltsame Sucht beherrscht die Arbeiterklasse aller Länder. (…) Es ist dies die Liebe zur Arbeit, die rasende, bis zur Erschöpfung der Individuen und Nachkommenschaft gehende Arbeitssucht.“
Ein Satz, der heute noch Gültigkeit hat, womöglich mehr denn je. Lafargue erkannte, dass Arbeit in der Moderne nicht nur Lebensunterhalt sichert, sondern Menschen bindet, formt, erzieht.
Und klein hält.
Heute wird körperliche Arbeit von der Oberschicht gemieden, aber freiwillig simuliert. In Fitnessstudios rackern sich Menschen für teures Geld ab: auf Fahrrädern, die nicht vom Fleck kommen.
Damals wurde man für Schweiss bezahlt. Heute zahlt man dafür.
Und wenn dabei die Bänder reissen oder die Bandscheiben einknicken, springt die Krankenkasse ein. Fortschritt nennen wir das.
Die psychischen Folgen dieses Systems sind längst messbar. Die Burnout-Fälle in der Schweiz haben sich seit den 2000er-Jahren vervielfacht.
Laut Job-Stress-Index der Gesundheitsförderung Schweiz fühlen sich 30 Prozent der Erwerbstätigen emotional erschöpft. Tendenz steigend.
Die Wirtschaft nimmt es achselzuckend hin – als Kollateralschaden eines Systems, das keine Pausen kennt.
Parallel dazu boomt der Markt der Selbstoptimierung. Mindfulness, Journaling, Atemtechniken, Biohacking:
Wer sich nicht täglich verbessert, bleibt zurück. Selbst das Entspannen wird zum Projekt mit KPIs (Key Performance Indicator, Leistungskennzahl).
Die Leistungslogik frisst sich bis in den Schlaf.
Dabei liegt gerade im Nichtstun eine Kraft, die in Vergessenheit geraten ist. Faulheit ist kein Laster – sondern eine Gegenkultur.
Sie widerspricht der Logik des Marktes. Wer nichts produziert, konsumiert zu wenig. Wer zu wenig konsumiert, stellt Fragen. Und wer Fragen stellt, wird unbequem.
Wer es schafft, eine halbe Stunde auf einer Bank zu sitzen, ohne aufs Handy zu schauen, ist bereits ein stiller Dissident.
Wer die Aussicht auf ein leeres Wochenende nicht als Bedrohung empfindet, sondern als Geschenk, hat einen wichtigen Schritt gemacht: raus aus der Maschine.
Georges Moustaki, der französische Sänger, war so ein Querdenker. 2013 verstorben, glaubte er zeitlebens an ein „natürliches Recht auf Faulheit“.
Und das, obwohl er seine Arbeit als Musiker liebte. Sein Credo: Wer weniger arbeitet, arbeitet besser.
Wer mehr als zwei Stunden pro Tag arbeite, so Moustaki, tue es selten noch mit Freude. Danach beginne die Entfremdung.
Schon Gotthold Ephraim Lessing erkannte das kreative Potenzial der Faulheit:
„Lasst uns faul in allen Sachen,
Nur nicht faul zu Lieb‘ und Wein,
Nur nicht faul zur Faulheit sein.“
Man darf den Vers getrost als Plädoyer für ein Leben jenseits der Tretmühle lesen. Faulheit als Spielart des Lebens – nicht als Mangel.
Ich selbst erinnere mich noch gut an meinen Primarlehrer, der uns ermahnte: „Wer faul ist, wird es zu nichts bringen.“
Er meinte es gut, sagte ich mir. Doch heute denke ich anders. Vielleicht bringt es der Mensch gerade dann „zu etwas“, wenn er nichts bringen muss.
Wenn ich auf der Terrasse liege, Luzi, mein alter Kater, in der Nähe schnurrend, der Tag ohne Programm, die Gedanken leicht.
Dann bin ich nicht faul. Ich bin bei mir. Und vielleicht ist das die Arbeit, die am meisten zählt. Weil sie keinem nützt. Und darum so notwendig ist.
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Die beliebtesten Kommentare
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Der Artikel trifft ins Schwarze. Ich lebe seit 5 Jahren in Südamerika und noch nie hat mich jemand nach meinem Job gefragt. Die Familie steht im Mittelpunkt. Den Älteren wird Respekt gezollt von den Jungen und kaum jemand definiert sich über seine Arbeit. Die macht man einfach, um seinen Alltag zu finanzieren. Aber jeder weiss, dass er bloss Sklave ist und seine Zeit verkauft. Wenigen kommt es in den Sinn, die Hierarchie-Leiter hochzuklettern, um Super-Sklave zu werden. Wie ignorant der Westen doch ist, zu meinen, der Job oder besser gesagt die Höhe des Einkommens definiert den Wert eines Menschen. Ich brauchte 50 Jahre um das zu begreifen. Jedoch in der Schweiz lernte ich es nicht, erst in den so genannten „Drittweltländern“.
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Bravo ! Sehr gut geschrieben.
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Der Primarlehrer hatte schon recht. Faulheit muss man sich leisten können, nur wenige sind Fils/Filles à papa. Alle andern Faulen landen schon früh in der Sozialhilfe. Ist das etwa erstrebenswert? Es ist auch ein Trugschluss zu glauben, das Leben beginne mit dem Eintritt ins Rentenalter. Die meisten Rentner langweilen sich nämlich, verbringen viel Zeit in Restaurants, Einkaufszentren, schauen schon vormittags TV. Altersturnen eine Stunde pro Woche, Seniorenwanderungen nur alle paar Wochen, das E-Bike steht von November bis März im Keller. Kenne das von Altersgenossen. Nicht meine Welt. Arbeite gerne weiter, wenn auch reduziert.
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Herrlich geschrieben, Herr Gautschin!! Ich würde das gerne so wie Sie formulieren können.
Sie und Herr René Zeyer (Betreiber von http://www.zackbum.ch) zählen zu meinen Lieblingsautoren hier.-
Ich kann mir nur anschliessen. Die beiden, nicht 20-Minuten-Journalisten, aber halt etwas im Kopf (und auch feiner Humor( haben mehr erlebt als mancher „Journalist “ vom Tages-Anzeiger („20 Sekunden“… 😉). Bitte weiter so
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Toll, Hans Gerhard, dass du dich deiner eigenen Meinung anschliessen kannst. Ist in der heutigen Zeit alles andere als selbstverständlich.
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Stress durch UeberVerantwortung, Laerm, Zeit-& Leistungsdruck o. Geldnot hat nicht nur auf die Betroffene Person stark négative Auswirkung, das Gesamte resoniert auch 1:1 mit dessen ganzem Umfeld.☘️ noch ein weiterer, hilfreicher Anti-Stress Tip – 100% ohne MEDIKAMENT (pre&post & burn-out proofed 🙏🏼🥸) = Kat. „Self Activation“.
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Ja genau, das nervt. Fast jeder Pensionär unterliegt dem Wahn „noch ein bisschen weiter zu machen“. „Was du machst nicht weiter?“ Fauler Sack…Indisches Sprichwort: binde einen Elefanten 3 Jahre an eine Kette, dann nimm die Kette weg: der Elefant bleibt dort stehen, für immer…
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Auch ein Burnout ist hilfreich, wie jede Krise. Dass natürlich die Faulen darüber insgeheim frohlocken und mahnen, dass Sie es schon immer richtig gemacht haben hilft nur der Anpassung ans faule Mittelmass.
Wichtig ist, sich von der Linerität, der erfolgreichen Planbarkeit zu lösen. Jeder hat ups and downs. Die Klugen lernen die anderen Jammern und Warnen.-
Die Burnouts häufen sich mit dem allgemeinen Abfall der körperlichen Fitness einhergehend. Der Mensch ist nicht zum Sesselsitzen / Iphone glotzen gebaut. Die Muskeln müssen gefordert werden, sonst werden sie abgebaut. Die Faulen sind weniger fit und haben bei geistigen Krisen weniger körperliche Widerstandskraft. Der Mensch eine Einheit aus Körper und Geist. Das ist so und wird die nächsten 100000 Jahre auch so bleiben.
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Hermann Hesses ‚Kunst des Müßiggangs‘ sei jedem ans Herz gelegt, der mehr zum Thema wissen will. Mein Credo: Work smart, not hard. Das funktioniert bei mir als halb-domestiziertem, digitalen Nomaden ausgesprochen gut!
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Nun, Spyris Geissenpeter lief einst beständig seinen Ziegen voraus und nach, und er stellte sicher, dass kein Zicklein irgendwo runterfiel und nicht wieder selber hochkam. Dazwischen fand der Peter wohl aber Zeit, sich existentiell eigenen Fragen zu stellen. Er war keinem übertönenden Solidaritätsgegröle im In- und Ausland ausgesetzt, seinen Rhytmus bestimmte er selbst, und von künstlich geschaffenem Dichte-, Wohnraum- und Fortbewegungsstress, von unsicheren Bahnhöfen, teuren Stillräumen im hohen Regierungshaus zu Bern oder geisteskranken Einrichtungen wie Verrichtungsboxen oder gar einer Generationenschuld gegenüber unbekannten Nationen im ausländischen Osten oder Süden hatte er noch nie gehört.
Natürlich sind die modernen Pensionierungsgrenzen ein Witz, und sie werden der Vor-X-Gen aber sogar gegönnt. Aber die Muse ist systembedingt vorgegeben.
Was kommt, ist nicht Faulheit, aber ein Prekariat, das auf den Strassen ausgefochten werden wird.-
Ich bekomme „Arbeit muss sich wieder lohnen“ und „Mindestlohn ist viel zu hoch“ einfach nicht zusammen.
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@Mörg
Das ist so, weil sich jeder Troll immer nur im Rahmen des Gegebenen bewegt. Aber Blöde gibt’s immer und überall, und sie sind halt fast immer in der Mehrheit.
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Burnout entsteht nicht unbedingt durch Überarbeitung. Sondern durch sinnentleerte und frembestimmte Tätigkeiten für ausländische Shareholder und schlechte Führungskräfte, die ihre Mitarbeiter wie dressierte Affen behandeln. Den medizinisch-pharmazeutischen Komplex freut’s.
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Das stimmt nur zum Teil – denn wenn der Affe klüger wäre, würde er sich nicht in diese Abhängigkeit begeben und vielleicht nicht im Juhee ein Haus kaufen mit einer grossen Hypothek, die im tagtäglich im Nacken sitzt.
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Da kommt mir der Spruch in den Sinn:
In unserer Mitte leben viele Leute, die mit Geld, das sie nicht haben, Dinge kaufen, die sie nicht brauchen, um Leuten zu imponieren, die sie nicht mögen…
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Viele Probleme der Schweiz werden durch das Altersvorsorgesystem mit den 3 Säulen verursacht. Dorthin gehen Unmengen an Geld, dort wird von Dritten profitiert – darum sind auch so viele Immobilien unter den Institutionellen, darum sind die Mieten so teuer, darum finden ü50er kaum eine Stelle etc. etc. Man müsste alles umstülpen und neu aufgleisen. Bloss wirds dazu nicht kommen, denn die Macht ist hier in der Schweiz ganz sicher nicht beim einzelnen Individuum – auch wenn uns das immer wieder vogegaukelt wird.
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Vielen Dank für diesen Beitrag! Ich habe den Eindruck, dass viele Menschen nicht mehr ihr „eigenes“ Leben leben. Stattdessen wird krampfhaft und bis ins Lächerliche versucht, mehr zu sein/haben, als man ist/hat. Zumindest für die Psychiater ist dies eine lukrative Entwicklung
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immerzu arbeiten ist nicht gesund, faulheit aber genausowenig. werden körperliche und geistige fähigkeiten über längere zeit nicht genutzt, dann baut der körper diese ab. „use it or lose it“, unser körper ist unglaublich effizient, was nicht gebraucht wird wird abgebaut.
fazit: zuviel faulheit ist genauso ungesund wie zuviel arbeit.-
Hat ja schon Paracelsus gesagt: Es ist die Dosis, die das Gift ausmacht
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Burnout entsteht nicht unbedingt durch Überarbeitung. Sondern durch sinnentleerte und frembestimmte Tätigkeiten für ausländische Shareholder und schlechte Führungskräfte, die ihre…
Vielen Dank für diesen Beitrag! Ich habe den Eindruck, dass viele Menschen nicht mehr ihr „eigenes“ Leben leben. Stattdessen wird…
Da kommt mir der Spruch in den Sinn: In unserer Mitte leben viele Leute, die mit Geld, das sie nicht…