Muriel Furrer ist tot. Die lebensfrohe Velofahrerin stürzte am Donnerstag in Küsnacht, quasi vor ihrer Haustür, so schwer kopfvoran, dass sie gestern im Unispital verstarb.
Um 17 Uhr 07 treten die Rad-Rennsport-Bosse vor die Kameras. Der Oberchef vom Weltverband UCI, welche die WM nach Zürich vergab. Und Olivier Senn, der den Anlass vor Ort befehligt.
Nach einer Schweigeminute spricht Senn Worte der Verzweiflung. Alle seien niedergeschmettert, aber keiner könne sich in den Schmerz der Angehörigen hineinfühlen.
Es folgen Fragen der zahlreichen Journalisten. Fünf an der Zahl, geäussert von zwei Journalisten mit je zwei Fragen und einem Dritten aus Italien.
Wie konnte das passieren? Senn weicht aus, verweist auf die Untersuchungen der Behörden.
Schon erklärt der Moderator vom UCI, der neben dem Podium steht, die Medienkonferenz für beendet.
Senn geht zum Hinter-Ausgang, wo er von einem dort Stehenden noch in die Arme geschlossen wird.
Weg ist er.
Zeit: 17 Uhr 17.
Zehn Minuten hingestanden, 5 Fragen (nicht) beantwortet, eine wohlformulierte Beileidsbezeugung vorgetragen, null Erklärungen für das Unbegreifliche geliefert.
Was ist da los?
Der „Blick“ berichtete gestern, Muriel Furrer sei nach ihrem Sturz auf wohl glitschig nasser Strasse lange in einem Waldstück schwerverletzt liegengeblieben.
Vermutlich weit über eine Stunde lang.
Die Zeitung beruft sich auf Motorradfahrer aus dem Begleittross. Keiner habe etwas bemerkt, hiess es.
Olivier Senn verbarrikadierte sich an der Pressekonferenz auf diesbezügliche Fragen hinter die Justiz.
„Die Staatsanwaltschaft führt bei aussergewöhnlichen Todesfällen wie nach einem Unfalltod stets eine Untersuchung zur Klärung der Todesursache und Todesart durch“, sagte gestern ein Sprecher der kantonalen Behörde auf Anfrage.
„Unter Hinweis auf das Amtsgeheimnis und mit Rücksicht auf die Persönlichkeitsrechte der Verstorbenen und Ihrer Angehörigen machen wir einstweilen keine weiteren Angaben.“
Nach Rücksprache mit der Familie würde die WM in Zürich zu Ende geführt, so Senn vor den weltweiten TV-Stationen und Zeitungsleuten.
„It is the wish of the family to continue the championship“, meinte der Schweizer Verantwortliche für den Riesenanlass.
Die Flaggen würden auf halbmast gesetzt, die (heutige) Schluss-Gala sei gestrichen. Das (Renn-)Leben müsse weiter gehen.
„We will and have to keep on going.“
Die NZZ lobt heute Senn für dessen Worte nach dem Tod vor Jahresfrist von Gino Mäder, einem anderen Schweizer Nachwuchsstar.
Mäder stürzte an der Tour de Suisse so schwer, dass auch er sein junges Leben verlor. Heute gehe es um Muriel, meinte Funktionärschef Senn auf die Frage des „Blick“-Reporters.
Aber ja, er fühle sich an diese schwere Zeit erinnert.
Mäder zu Tode gestürzt an der Schweizer Rundfahrt, unter dem Kommando von Senn; Muriel Furrer tödlich verunfallt an den Rad-Weltmeisterschaften in Zürich.
Auch dieser Anlass mit General Senn an der Spitze.
Der taucht auf, spricht nach der grösstmöglichen Katastrophe ein paar Sätze ins Mikrofon, und rauscht nach 10 Minuten davon.
The Show Must Go On.
Schneller noch als die Fahrer „seiner“ WM, die von A bis Z ein Trauerspiel ist.
Für den Regen kann keiner etwas.
Dass man den halben Kanton eine ganze Arbeitswoche lang lahmlegt, hätte man sich hingegen im voraus besser überlegen müssen.
Insbesondere bei einem Zuschauer-Aufmarsch, der über weite Strecken im Bereich von Unternull liegt.
Die Politiker, allen voran der kantonale Polizei-Direktor Mario Fehr und der städtische Sport-Vorsteher Filippo Leutenegger, sprachen eine tiefe zweistellige Millionensumme fürs vermeintliche Super-Spektakel.
Dafür verwiesen sie auf die schönen TV-Bilder, mit Raddampfer auf dem Zürichsee und praller Natur rund um die Zwinglistadt.
Das würde Zürich auf Jahre hinaus als aufstrebende, blühende Metropole in der Welt positionieren, so ihr Kalkül.
Jetzt ist alles zusammengekracht. Mit dem unendlich traurigen Tod der jungen Fahrerin aus dem Zürcher Oberland erlebt die Schweizer Vorzeigestadt ihren Horrortraum.
Und Senn, der grosse Macher, macht sich rar. Kritik kontert er mit Gegenkritik.
„Es gibt gewisse Kreise, die ein Interesse zu haben scheinen, sich auf Negatives zu beschränken“, sagte Senn im kürzlichen Interview mit der NZZ.
„Sie lösen unnötige Ängste und teilweise heftige Reaktionen aus. Sich an die Fakten zu halten, scheint nicht bei allen eine grosse Stärke zu sein.“
Im Sommer überschüttete Senn die Organisatoren der Olympiade in Paris mit Häme und Kritik. „What an awful TV production“, feuerte er einen Tweet ab.
Statt sich mit dem Velo-Rennen zu beschäftigen, hätten sich die Fernseh-Macher zu Architektur- und Geschichts-Gelehrten aufgespielt.
„(T)o understand this complicated and exciting race was just impossible“, kritisierte der Schweizer Rad-Sheriff.
Zu verstehen, warum die junge Furrer ihr Leben verlor, ist jetzt auch unmöglich.
Dazu hätte Senn an der gestrigen Pressekonferenz erklären müssen, wie er den Parcours gewählt, wo er Streckenposten hingestellt, was er bei rutschigem Belag für zusätzliche Sicherheiten verfügt hatte.
Vergleichbare Fragen stellten sich schon beim Tod von Mäder vor einem Jahr. Sie stellen sich beim Tod von Furrer, an einer WM, mitten in deren Zürcher Heimat, noch viel lauter. Doch Rennleiter Senn kommt, sieht – und verschwindet.
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