„Ist das wirklich Freundschaft?“

Marco, mein Freund, erzählte mir eines seiner neuesten Erlebnisse. Bitter enttäuscht war er – wieder einmal.

Da passiert ihm doch immer und immer wieder Ungemach. Er scheint es anzuziehen.

Aktuell geht es um einen seiner Freunde: Andrea und Marco sind seit bald 30 Jahren enge und gute Freunde – jedenfalls hatten wir diesen Eindruck.

Doch Marco ist nicht voll des Lobes, im Gegenteil. „Weisst du“, erzählte er mir, „ich hab tatsächlich geglaubt, dass Andrea ein guter Freund ist und war. Doch nun entpuppt er sich als kompletter Charakterlump.“

„Kaum war ich mit meiner gescheiterten Familie ins Elend gekommen, hat er sich verabschiedet und möchte keinen Kontakt mehr pflegen. Heute, fast drei Jahre später, habe ich auch erfahren warum.“

„Er, der selbst eine gescheiterte Familie hinter sich hat, hat sich neu verliebt und ist in der neuen Patch-Work-Familie aufgegangen. Da hatte ich mit meinen ‚Rahmenbedingungen‘ natürlich keinen Platz mehr.“

„Weisst du, das ist bitter, denn als Andrea seinerzeit in Schwierigkeiten war, war ich als Freund immer für ihn da. Er hat wochen-, gar monatelang bei mir und meiner Familie wohnen können.“

„Als er in finanzielle Schwierigkeiten geriet, habe ich ihm Geld geborgt – ich war immer für ihn da. Und jetzt, wo es mir schlecht geht, verabschiedet er sich, um sein neues Leben zu geniessen, weitab von meinen Ungemütlichkeiten.“

„Ist das wirklich Freundschaft?“

Ich muss zugeben, das war starker Tobak. Der arme Marco ist offenbar seinem Freund Andrea lange auf den Leim gegangen, ich würde vielleicht sogar sagen, dass er von ihm ausgenutzt wurde.

Fein ist das natürlich nicht. Aber natürlich!

Oft, wenn ich das Verhalten der Menschen – scheinbar – nicht verstehe, dann schaue ich ins Tierreich.

Gut, die Tiere – die allermeisten wenigstens – haben nicht annähernd den Intellekt des Menschen. Aber sie haben dafür die umso besseren Instinkte.

Und da wir als Mensch eben auch ein natürliches Lebewesen mit (oft unterdrückten) Instinkten sind, haben wir vieles gemeinsam. Es lohnt, über den Zaun zu gucken und zu schauen, wie es in einer entsprechenden Situation im Tierreich aussieht.

Und da gibt es für Marco mit seinem „Fall Andrea“ tatsächlich schlechte Nachrichten. Denn wird in der Herde ein Tier krank oder ist es verletzt, dann wird es zurückgelassen. So einfach ist das.

Sie mögen jetzt sagen, dass dies ein unzulässiger Vergleich ist. Ich halte dagegen: Andrea hat genau so gehandelt.

Eine lange Freundschaft hat keinen Wert mehr, wenn sich die Parameter verändern. Wenn nicht mehr er das „kranke Tier in der Herde“ (Geld- und Scheidungssorgen) ist, sondern Marco.

Andrea handelt keineswegs freundschaftlich oder gar rücksichtsvoll, nein, er tritt die Freundschaft mit Füssen.

Aber er reagiert vollkommen natürlich. Er ist ein Verräter und tatsächlich ein Charakterlump, aber er handelt in seinem Sinn, mit seinem Instinkt völlig korrekt.

Für das „Überleben“ eine vollkommen nützliche Eigenschaft. Ich glaube, man spricht in diesen Fällen auch von grenzenlosem Egoismus.

Denn Egoismus dient letztendlich der Erhaltung der Art – und weniger des Individuums.

Nun denn, was ich eigentlich sagen wollte: Denken wie Tiere (natürlich muss man unter „denken“ mehr den Instinkt meinen) und handeln wie Menschen (handeln sollten) ist manchmal ein gutes Rezept.

Beginnen Sie doch einmal, Ihre Umgebung nach diesem Leitspruch zu beobachten. Vielleicht fallen Ihnen in gewissen Fällen Parallelen zwischen den Instinkten und dem Handeln der Menschen auf.

Natürlich ist das nicht mein letztes Wort, denn ich habe Marco recht geben müssen. Seine Enttäuschung ist mehr als nachvollziehbar.

Spätestens seit dem Beginn des Humanismus im 15. Jahrhundert sollten Menschen eben wie Menschen handeln:

Mit Würde, Anstand und einer gewissen Ethik.

Es ist unerträglich, mitansehen zu müssen, wie wir Menschen miteinander umgehen – in einer Art und Weise, wie es Tiere nie tun würden.

Und ja, lieber Marco, dein „Freund“ Andrea ist tatsächlich ein grober Charakterlump. Oder um es mit einem chinesischen Sprichwort zu sagen: „Wir verlieren nie Freunde, wir lernen nur wer die wahren sind.“

Ein unaufrichtiger und böser Freund ist mehr zu fürchten als ein wildes Tier; ein wildes Tier mag deinen Körper verwunden, aber ein böser Freund wird deinen Geist verwunden. (Buddha)